
"Auf seine Stimme hören"
Pluralismus der Lebensvorstellungen
Es gibt in unserer pluralistischen Gesellschaft keine gemeinsame Vorstellung vom Leben, die allen gemeinsam ist. Menschen denken recht unterschiedlich davon, wie man zu dem Leben kommen kann, dem sie wirklich vom Herzen zustimmen können. Es gibt einfach zu viele Möglichkeiten, das Leben zu entwerfen, zu gestalten, sodaß viele ratlos vor dieser Frage stehen: Worauf kann ich mich einlassen und soll ich mich einlassen.
Wir werden nämlich von sehr vielfältigen Stimmen umworben, die uns Leben anbieten.
Gabe der Unterscheidung
Wir lernen im Laufe der Jahre zu unterscheiden, auf welche Stimmen wir uns einlassen, und bauen uns so einen Lebensstil auf. Es gibt Stimmen, die unsere unmittelbare Zustimmung bekommen, die Vertrauen hervorrufen, aber auch Stimmen, die unsere spontane Abwehr hervorrufen. Unser Problem ist oft, daß wir uns nicht umfassend informieren können, sodaß wir immer auf Vertrauen angewiesen sind. Wir suchen uns also unsere Vertrauenspersonen im wissenschaftlichen, ethischen und natürlich auch im religiösen Bereich. Diese Personen haben einen großen Vertrauensvorschuß. Die anderen weisen wir sofort ab. Immer mehr geht es nicht um die Sachfragen, sondern: Wer hat das gesagt!
Szene am Brunnen
Auf dem Hintergrund dieser Vorbemerkungen lade ich sie ein, uns eine Szene am Brunnen in einer Oase in der Wüste vorzustellen. An dieser Wasserquelle kommen mehrere Herden mit ihren Hirten zusammen. Sie wollen alle trinken. Die Hirten tauschen einige Neuigkeiten aus. Nach einiger Zeit brechen sie wieder auf. Die Tiere sind inzwischen durcheinandergelaufen. Die Hirten rufen, die Schafe hören unfehlbar die Stimme ihres Hirten heraus. Hirt und Herde haben eine Geschichte miteinander, und in dieser Geschichte ist gegenseitiges Kennen gewachsen, Vertrautheit und Zugehörigkeit. An seiner Stimme findet die Herde zu ihrem Hirten und zueinander.
Und das scheint mir der springende Punkt dieser Erzählung zu sein. Es geht nicht um dumme Schafe, wie wir oft sagen, und um eine blinde Abhängigkeit zu einem Hirten. Ich habe mir unter anderem vom Deutschunterricht folgendes gemerkt: Bei einer Allegorie geht es nicht um eine Ähnlichkeit von Figuren, sondern um eine Gleichheit von Verhältnissen. Es ginge also hier um die Gleichheit der Beziehungen zwischen Hirten und Schafen. Und diese Beziehung ist nicht geprägt von dummer blinder Gefolgschaft, sondern von Vertrautheit. Es ist Klugheit und es sind gute Erfahrungen, die die Schafe auf die Stimme ihres Hirten hören lassen.
Unsere Geschichte mit der Stimme Jesu
Auch uns führt hier eine gemeinsame Erfahrung mit der Stimme Jesu zusammen. Wir sind zum Glauben gekommen, weil wir irgendwann seine Stimme als einen Ruf in unser Leben gehört haben, der das Beste und das Tiefste in uns berührt hat. Im Eingehen auf diese Stimme haben wir die Erfahrung gemacht, daß wir durch sie nicht betrogen werden, sondern daß sie uns auf einen guten Weg führt. Wir nennen diese Erfahrung auch „Berufung“. Bei den meisten wird es unmerklich passiert sein, ganz selten wird es ein punktuelles Erleben gewesen sein, daß zu einer klaren Lebensveränderung geführt hat. Aber für uns alle gilt, daß wir in einer pluralistischen Gesellschaft zu unterscheiden haben. Es gab einmal ein Christsein durch den einstimmig bestimmten christlichen Lebenszusammenhang. Auch wenn sich einmal eine andere Stimme einmischte, so gab es doch eine mit vielen geteilte gemeinsame Ausrichtung an den Wegweisungen des Evangeliums. Die Zeit dieses Christseins geht ihrem Ende zu - nicht überall gleich schnell, aber doch überall bereits spürbar. Es beginnt eine Zeit, die den Anfängen der Kirche wieder ähnlicher wird. Die Menschen finden an der ihr vertraut gewordenen Stimme ihres guten Hirten zusammen.
Die Stimme Jesu im Evangelium verspricht nicht einen leichten, unbelasteten Weg. Sie stellt uns nicht vor Augen, was manche sich unter einem schönen Leben vorstellen. Unserem Hirten geht es um unser ewiges Leben. Was bleibt vom Leben, das wir leben? Nicht alle Stimmen, die uns umwerben, wollen wirklich unser Leben. Oft wollen sie für sich selbst einen Gewinn. Er ist einer, der uns nichts vormacht, seine Stimme trägt und führt in die Zukunft. Wer ihr vertraut kann sicher sein: Sie werden niemals zugrunde gehen, und niemand wird sie meiner Hand entreißen.
Wir sind jetzt eingeladen in dieser Feier auf die Stimme des Hirten zu hören, der zu uns sagt: „Nehmt und eßt, ich bin es für Euch!"
P. Erhard Rauch SDS, 8. Mai 2022