
Erinnern, gedenken, erzählen: Die letzten Kriegstage in Mistelbach und das Opfer des P. Titus Helde
Die Veranstaltung beleuchtete nicht nur den Märtyrertod von P. Titus, sondern auch die dramatischen Ereignisse, die sich im April 1945 in Mistelbach abspielten. Unter der Leitung von Robert Passini (Provinzarchiv der Salvatorianer, Wien) diskutierten Zeitzeugin Christa Jakob, Dr. Markus Holzweber (Historiker, Uni Wien) und P. Peter van Meijl SDS (Historiker, Titus-Helde-Biograf). Sie alle zeichneten ein eindrucksvolles und facettenreiches Bild jener Tage zwischen Zusammenbruch, Gewalt und Menschlichkeit.
Zum Nachhören: "Weiter denken weiter gehen" - Podcast Nr. 12 zur Podiumsdiskussion am 16. Mai 2025 in Mistelbach (Achtung: 76 MB)
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Erinnerungen einer Überlebenden: Christa Jakob erzählt
Christa Jakob, die den Krieg als Kind in Kottingbrunn erlebte, berichtete eindrücklich von traumatischen Erlebnissen wie Bombenangriffen, dem Leben im Luftschutzkeller, Todesangst und dem Anblick toter und verwundeter Menschen, aber auch von der Bedeutung kleiner Hoffnungsmomente: Das Bild eines Schutzengels und die beruhigende Stimme der Mutter spendeten Trost im Luftschutzkeller. Nach Kriegsende erlebte sie, wie viele Frauen – darunter auch ihre Großmutter – Opfer sexueller Gewalt durch einmarschierende Soldaten wurden. Die Familie lebte in großer Armut, dennoch blieben kleine Gesten, wie eine mit Vanillezucker bestreute Semmel, lebhaft im Gedächtnis.
Christa Jakob: "Draußen auf der Straße sind die Toten gelegen. Und ich als Kind musste über diese Leichen steigen, um nach Hause zu kommen." (c) Salvatorianer/Manu Nitsch
Nach der schweren Erkrankung ihrer Mutter fand Christa vorübergehend Unterschlupf im Mistelbacher Pfarrhof, wo sie durch Gebet Trost fand – und die Menschlichkeit eines sowjetischen Offiziers, der sie väterlich behandelte. Die Nachkriegszeit begann für sie in einem zerstörten Mistelbach, das geprägt war von Chaos, Angst – aber auch Hilfsbereitschaft.
Besonders deutlich erinnerte sie sich an die dramatischen Umstände beim Einmarsch der Roten Armee: Keller wurden zu Zufluchtsorten, doch auch dort waren die Menschen vor Gewalt nicht sicher. Jakob schilderte, wie angetrunkene Soldaten Häuser plünderten, Frauen missbrauchten und Bewohner aus ihren Wohnungen vertrieben. Angst herrschte nicht nur vor den Besatzern – auch Nachbarn nutzten die Gelegenheit zum Diebstahl von Wertsachen. Das Misstrauen war tiefgreifend, das Leid omnipräsent.
Historische Einordnung: Markus Holzweber über Kriegsgewalt und Ambivalenz
Markus Holzweber, Historiker an der Universität Wien, beleuchtete die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs aus wissenschaftlicher Perspektive. Er schilderte die strukturelle, militärische und sexualisierte Gewalt, die die Zivilbevölkerung 1945 erlebte. Während Wien bereits gefallen war, tobten in anderen Regionen noch erbitterte Kämpfe. Gewalt war allgegenwärtig – verübt sowohl von der Wehrmacht als auch von der Roten Armee.
Markus Holzweber: "Viele haben in dieser Zeit ihre Menschlichkeit bewahrt, aus Glaubens- oder Gewissensgründen. Das darf und muss man hochhalten. (c) Salvatorianer/Manu Nitsch
Besonders erschütternd waren die Berichte über massenhafte Vergewaltigungen in der sowjetischen Besatzungszone – bis zu 400.000 Fälle in Österreich allein. Gleichzeitig erinnerte Holzweber daran, dass es auch sowjetische Soldaten gab, die Kindern Essen gaben oder Frauen schützten. Die Besatzungserfahrung sei von Ambivalenz geprägt gewesen: zwischen Gewalt und gelegentlicher Hilfe, zwischen Trauma und Solidarität.
Holzweber betonte auch die Perspektive der jungen sowjetischen Soldaten: Viele von ihnen waren traumatisiert, durch Propaganda aufgeladen und unfähig, zwischen Zivilist:innen und Feinden zu unterscheiden. Der sowjetische Apparat erkannte Übergriffe als Kriegsverbrechen an, doch oft mangelte es an Konsequenzen. Erst mit der Zeit besserte sich die Disziplin.
Trotz allem erinnerte Holzweber daran, dass auch die sowjetische Seite immense Verluste erlitt – rund 25 Millionen Tote. Diese historische Dimension dürfe nicht verschwiegen werden, auch wenn sie keinesfalls als Rechtfertigung für Gewalt dienen könne.
Das mutige Opfer: P. Peter van Meijl über P. Titus Helde
Ein zentraler Punkt des Abends war der Lebensweg und Tod von P. Titus Helde. Der Salvatorianer war nur drei Jahre in Mistelbach tätig, doch sein mutiger Einsatz während der letzten Kriegstage machte ihn unvergessen.
P. Peter van Meijl, Mitbruder und Postulator im Seligsprechungsprozess, berichtete von seinen intensiven Recherchen. Am Abend des 21. April 1945 hatte eine Frau mit ihrem Kind im Kloster Zuflucht gesucht. Kurz zuvor waren sowjetische Soldaten auf der Suche nach Wehrmachtssoldaten eingedrungen. P. Titus stellte sich schützend vor die Frau und ermöglichte ihr die Flucht – dabei wurde er angeschossen. In der Nacht erlag er seinen Verletzungen.
P. Peter van Meijl: "Das Opfer von P. Titus Helde nenne ich eine Logik der Liebe oder des Engagements". (c) Salvatorianer/Manu Nitsch
Die Frau überlebte, doch aus Schuldgefühl schwieg sie jahrzehntelang. Erst viele Jahre später sprach sie mit P. van Meijl. Ihr inzwischen erwachsenes Kind erinnerte sich an die Todesangst jener Nacht – es hatte sich an den Haaren der Mutter festgeklammert.
P. Titus hatte in derselben Nacht auch zwölf junge Frauen im Kloster versteckt. Viele von ihnen konnten später identifiziert werden. Für van Meijl steht fest: Titus Helde handelte nicht zufällig, sondern aus bewusstem, christlichem Einsatz – für ihn ist er ein echter Märtyrer.
Die Räumung des Krankenhauses
Christa Jakob schilderte auch das medizinische Drama dieser Tage. Am 21. April – dem Tag, an dem P. Titus starb – ordnete die sowjetische Besatzung die sofortige Räumung des Mistelbacher Krankenhauses an, um es als Lazarett zu nutzen. Rund 200 Patient:innen mussten innerhalb kürzester Zeit verlegt werden – ohne geeignete Fahrzeuge oder medizinische Ausstattung.
Die Szene war geprägt von Hilflosigkeit: Menschen wurden auf Operationstischen und Karren transportiert, das provisorische Spital im Rathaus stieß rasch an seine Grenzen. Operationen fanden auf Schreibtischen statt, Säuglinge lagen in Schubladen. Auch das Siechenhaus musste unter Aufruhr geräumt werden. Für Jakob war es eines der erschütterndsten Ereignisse, das sie je in Mistelbach erlebt hatte.
Robert Passini vom Provinzarchiv der Salvatorianer führte eloquent durch die Podiumsdiskussion. (c) Salvatorianer/Manu Nitsch
Vergessene Helferinnen: Die Rolle der Salvatorianerinnen
Neben all dem Leid, so betonte P. Peter van Meijl, dürfe man die Geschichten des Guten nicht übersehen. Viele Salvatorianerinnen – Ordensfrauen aus Mistelbach – waren während des Krieges in Lazaretten aktiv. Sie versorgten Verwundete, trotzten Bombenangriffen und gingen zu Fuß zu Kranken. Ihr selbstloser Einsatz ist heute weitgehend vergessen.
Van Meijl appellierte, diese Geschichten ebenfalls Teil der Erinnerungskultur werden zu lassen. Es gehe nicht darum, das Leid zu relativieren, sondern ein vollständigeres Bild zu zeichnen – eines, das auch Mut, Solidarität und Mitmenschlichkeit sichtbar macht.
Fazit: Ein Abend des Gedenkens, aber auch der Mahnung
Die Podiumsdiskussion machte deutlich, wie vielschichtig die letzten Kriegstage in Mistelbach waren: geprägt von Leid, Gewalt, Angst – aber auch von Hoffnung und Menschlichkeit. Die Geschichte von P. Titus Helde steht stellvertretend für den Mut, den manche in diesen Tagen bewiesen. Er opferte sein Leben, um andere zu retten – ein Akt, der weit über das Lokale hinausstrahlt.
Der Saal im Pfarramt Mistelbach war bis auf den letzten Platz gefüllt. So manche Besucher:in konnte mit Erinnerungen dazu beitragen, das Bild über Mistelbach in den letzten Kriegstagen zu vervollständigen. (c) Salvatorianer/Manu Nitsch
Zeitzeugin Christa Jakob und die Historiker erinnerten daran, dass der Krieg nicht nur auf den Schlachtfeldern stattfand, sondern tief in das Alltagsleben eingriff. Ihre Berichte riefen ins Bewusstsein, wie rasch Zivilisation in Barbarei kippen kann – und wie wichtig es ist, die Erinnerung wachzuhalten.
Die Podiumsdiskussion am 16. Mai 2025 war damit nicht nur ein historischer Rückblick, sondern ein eindringlicher Appell: das Menschliche im Unmenschlichen zu bewahren – damals wie heute.
Zum Nachhören: "Weiter denken weiter gehen" - Podcast Nr. 12 zur Podiumsdiskussion am 16. Mai 2025 in Mistelbach (Achtung: 76 MB)